Akira Iriye: Geschichte der Welt. Wege zur modernen Welt 1750-1870 Globalgeschichte nicht nur für Historiker_innen

Sachliteratur

Ein neues Überblickswerk über die Geschichte des 19. Jahrhunderts zeigt die Chancen und Nachteile der globalgeschichtlichen Perspektive.

Akira Iriye: Geschichte der Welt. Wege zur modernen Welt 1750-1870.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Akira Iriye: Geschichte der Welt. Wege zur modernen Welt 1750-1870. Foto: Stanfield, Clarkson (PD)

31. Mai 2017
0
0
6 min.
Drucken
Korrektur
Globalgeschichte liegt im Trend. Spätestens seit Jürgen Osterhammels „Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts“ aus dem Jahr 2009 ist diese im englischen Sprachraum schon länger etablierte Sparte der Geschichtswissenschaften auch voll und ganz in Deutschland angekommen. Die Globalgeschichte zwischen 1750 und 1870 wird nun im 2016 erschienenen vierten Band der „Geschichte der Welt“ behandelt – herausgegeben von Akira Iriye und Jürgen Osterhammel.

Ein Werk, welches einen so grossen Zeitraum umfasst und dies gleichzeitig unter Verwendung einer globalhistorischen Perspektive angeht, muss zwangsläufig Lücken und damit wohlfeile Kritik in Kauf nehmen. Vorab nur Lob: Den vier Autoren des Bands, Cemil Aydin, R. Bin Wong, Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel gelingt es, den Phänomenen des 19. Jahrhunderts so auf den Grund zu gehen, dass auch für Leserinnen und Leser ohne grosse Vorkenntnisse genügend Anknüpfungspunkte für eine gewinnbringende Lektüre bestehen. Das betrachtete Jahrhundert wird dabei trotz der Eingrenzung bis zum Jahr 1870 in vielen Bereichen komplett abgedeckt.

Wenn es um einprägsame Einzelschicksale geht, wie jenes von Joseph Bologne, dem berühmten Fechter, Violinisten und Komponisten aus Frankreich, der eigentlich aus Guadeloupe stammte und sich für die Abschaffung des Sklavenhandels engagierte, wird klar, wie global die Jahre von 1750 und 1870 für zeitgenössische Biographien konkret sein konnten. Sobald der Text aber von Einzelschicksalen und Details absieht, erreicht er mitunter ein Abstraktionsniveau, das es erschwert, sich die komplexen Prozesse der einsetzenden Globalisierung, der Industrialisierung sowie den Wandel und die Konstruktion von Kulturen und Religionen vorzustellen – aber dies hängt zwangsläufig zusammen mit der globalhistorischen Perspektive. Das in dieser Hinsicht besonders positiv hervortretende Kapitel ist jenes zur „Kulturgeschichte globaler Transformation“ von Sebastian Conrad, welches sich vor allem durch eine anschauliche Sprache auszeichnet.

Die Herausforderung der Globalgeschichte liegt in der richtigen Darstellungsweise: Übergreifende strukturelle Phänomene, die den Wandel antrieben und bis heute antreiben, müssen so veranschaulicht werden, dass die Ausmasse der Transformationsprozesse vorstellbar werden – das langsame Produktivitätswachstum in der Landwirtschaft, die Entstehung leistungsfähiger Industrien, die Geburt des Nationalismus und seine Rolle als zunehmende politische Antriebskraft. Erst im späten 19. Jahrhundert war es möglich, Ozeane zu überqueren, auch wenn der Wind nicht wehte und Nachrichten durch Telegraphie innerhalb von Stunden anstatt von Wochen zu überbringen. Mit der beginnenden Industrialisierung erreichte die Menschheit ein Wohlstandsniveau, das für die privilegierten Teile der Welt den langsamen Abschied von materieller Not in Friedenszeiten bedeutete. Gleichzeitig entstand der moderne Kapitalismus, der ein neues Machtgefälle zwischen Lohnarbeit und Kapitalbesitz schuf – eine nie geahnte Ungleichheit trat hinzu.

Immer wieder sind im Buch Denkanstösse zu finden, die neues Licht auf bekannte Fragestellungen werfen: So sind die Jahre 1750 bis 1870 auch die Jahre, in denen sich weltumspannende Imperien entwickelten. Diese profitierten eben nicht von einem gleichmacherischen Nationalismus, sondern von der Vielfalt ihrer Bestandteile. Nationalistische aber auch vor allem religiöse Bewegungen wie der Taiping-Aufstand in China von 1851 bis 1864 oder der indische Aufstand von 1857 konnten ihre destabilisierende Wirkung innerhalb der Imperien dann entfalten, wenn sie auf die Unterschiede innerhalb der Gesellschaften hinwiesen und diese mit einer sozialen und religiösen Forderung verbanden. So liegen in diesen Bewegungen die Keimzellen für Unabhängigkeitsbestrebungen, die sich freilich erst im 20. Jahrhundert durchzusetzen vermochten. Vorerst behielten die Imperien die Oberhand, solange sie die eigene Legitimität glaubhaft vermitteln und militärisch stützen konnten.

Eine mögliche Antwort darauf aus Sicht der von den Imperien beherrschten Kulturen bot die Regionalisierung, also die Konstruktion regionaler Identitäten. So entstanden Gemeinschaften, die auf imperiale Infrastrukturen angewiesen waren, während sie gleichzeitig immer vehementer Gegenmodelle zu imperialer Herrschaft entwickelten. Dies geschah jedoch ausdrücklich unter Verwendung europäischer Politikmodelle. Das internationale Recht wurde auch in den nicht-europäischen Gesellschaften ernst genommen und schon bald gegen seine europäischen Urheber verwendet. So wurde laut Cemil Aydin „der Kampf gegen den rechtlich kodifizierten Imperialismus zu einer Triebfeder der Universalisierung des Völkerrechts“ (S.129).

Es geht in diesem Werk nicht um eine Unterdrückungsgeschichte der kolonialisierten Völker. Zwischen Britannien und Indien oder Frankreich und Algerien und innerhalb der betroffenen Gesellschaften verschoben sich die Machtverhältnisse durch westliche Einflüsse – mit ganz unterschiedlichen Auswirkungen. Das war allerdings ein Wechselspiel, der Begriff der „multiple modernities“ soll auf dieses komplexe Spannungsverhältnis hinweisen und eine allzu eurozentrische Sichtweise korrigieren, die den kolonialisierten Völkern eigenständige Handlungsperspektiven abspricht. Ein Beispiel: Die Aufklärung war nie ein rein europäisches Phänomen, sie dauerte viel länger an als bis ins frühe 19. Jahrhundert und war ein globaler Faktor mit ganz unterschiedlichen Ausprägungen, bis hin zur japanischen Aufklärung, die mit dem Begriff kaika bezeichnet wird und sich erst gegen Ende des Jahrhunderts durchsetzte.

Da sich das Buch die „Geschichte der Welt“ vorgenommen hat, bleiben natürlich Fragen offen: Warum spielt die skandinavische Geschichte keine wirkliche Rolle darin und weshalb wird dem atlantischen Sklavenhandel ein so viel grösserer Raum gegeben als dem orientalischen Sklavenhandel? Kriegerische Konflikte und die Verbreitung von Waffentechniken und Kampftaktiken hätten ebenfalls eine tiefere Betrachtung verdient gehabt. Die berechtigte Kritik darf aber auch den Überblickscharakter des Werks nicht ignorieren. Klar ist: Man bekommt einen beeindruckenden Überblick, wenn man die 836 Textseiten durchgelesen hat.

Eines Eindrucks konnte ich mich nicht erwehren: Sieht man im Jahr 2017 als Leser_in einer „Geschichte der Welt“, die den Prozess der Globalisierung schon im 19. Jahrhundert verortet, vielleicht einer historischen Entwicklung entgegen, die sich als Deglobalisierung bezeichnen lässt? Sind die eng geknüpften weltwirtschaftlichen Netze und die globale Kommunikation auf ihrem Zenit angelangt? Es spricht dafür, dass die Bevölkerungen in den industrialisierten Ländern sich angesichts der Nachteile des „Freihandels“, ihrer durch den kulturellen Wandel verunsicherten Identitäten und vieler anderer Faktoren, die zu Recht oder zu Unrecht der Globalisierung zugeschrieben werden, gegen diesen Prozess gewandt haben und ihn nicht mehr mittragen: Brexit, Trump, Kaczyński, Orbán, Rodrigo Duterte, Erdogan, Putin, Le Pen und der fleissig übende Björn Höcke. Die autoritäre Politik kehrt zurück und sie will sich gegen den „Globalismus“ wenden, also die Vorstellung des zunehmenden Machtverlusts des Nationalstaats angesichts der politischen und wirtschaftlichen Globalisierung.

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Globalisierungsprozesses zeigt, dass dieser zu jeder Zeit ambivalent war, Ungleichzeitigkeiten hervorrief und Aufholprozesse stimulierte, die nicht selten in historische Einbahnstrassen mündeten. All diese Entwicklungen vollzogen sich jedoch nicht automatisch-mechanisch durch Marktgesetze oder Modernisierungszwänge: Sie wurden von den Menschen und ihren Wahrnehmungen bestimmt, die strukturellen Wandel erst möglich machten und dadurch gleichzeitig wieder neue Impulse erhielten. Für eine fortschrittliche Globalisierungskritik erlaubt diese Perspektive vor allem die Schlussfolgerung in zukünftigen Auseinandersetzungen weder einen naiven ökonomischen Determinismus zu vertreten, noch ökonomische Ursachen angesichts kultureller Phänomene auszublenden und eine Analyse zu wagen, die kulturelle und ökonomische Faktoren gleichrangig mit einbezieht. Denn das täglich neu verhandelte Narrativ über den Wandel wird letztendlich über sein Wesen entscheiden.

Lino Schneider-Bertenburg
kritisch-lesen.de

Akira Iriye, Jürgen Osterhammel (Hg.): Geschichte der Welt. Wege zur modernen Welt 1750-1870. C. H. Beck Verlag, München 2016. 1002 Seiten, ca. 54.00 SFr. ISBN 978-3-406-64104-6.